Märchen

Denn das Schicksal macht auch nicht vor den Reichen halt...

Es war einmal ein Junge namens Niklas. Niklas war 18 und wuchs wohl behütetet mit seiner kleinen Schwester Emilia bei seiner Familie auf. Sein Vater war ein über die Stadt hinaus bekannter Anwalt und seine Mutter Architektin - somit fehlte es ihm an nichts. Anstatt Niklas aber wahre, elterliche Liebe zu geben, gaben ihm die Eltern stets materielle Dinge als kleine Aufmerksamkeiten. Das machte ihn zu einem sehr oberflächlichen Menschen, welcher nie gelernt hatte mit Gefühlen umzugehen. Niklas suchte sich seine Freunde stets nach dem Einkommen der Eltern, nach dem Aussehen und der Marke der Klamotten aus. Deshalb konnte er nie innige Freundschaften eingehen und hatte keinen, dem er wirklich seine Sorgen und Gedanken anvertrauen konnte – obwohl er genau dies suchte. Zwar hatte er eine wundervolle Freundin namens Clarissa, welche die Tochter vom hauseigenen Arzt der Familie war, aber auch ihr konnte er sich nicht wirklich öffnen. 

Niklas' Freund Ole hatte Geburtstag – jedoch hatte dieser nicht wirklich Lust auf eine große Party. Deshalb entschied er sich spontan für eine kleine Feier am Rhein – es war ja Sommer. Der Alkoholpegel stieg von Stunde zu Stunde und auch die Abendhitze machte den Jugendlichen zu schaffen. Aber Niklas trank weiterhin die Vodka-Cola-Mischung um einfach cool zu sein und um dazuzugehören. Schon bald merkte er, dass es keine gute Idee war, bei diesem Wetter zu trinken und legte sich deshalb ziemlich benommen an das Rheinufer. Als er nach einem kleinen Nickerchen wieder zu sich kam, bemerkte er, dass alle seine Freunde ihn sitzen gelassen hatten. In diesem Moment störte es ihm zum ersten Mal, dass seine angeblichen Freunde sich nicht für ihn interessierten. Das ließ ihn nachdenklich und traurig werden.

Niklas raffte sich langsam wieder auf. Ihm war ein wenig schwindelig, aber er hielt sich krampfhaft aufrecht. Er schaute sich um, um sich zu orientieren, wo er denn nun genau war. Sein Blick wurde plötzlich starr. Für einen kurzen Moment fühlte sich Niklas, als wäre sein Herz stehen geblieben. Was er sah, war für ihn ein Schock – er sah seine Freundin Hand in Hand mit Ole in der Abenddämmerung davongehen. Ihm liefen auf einmal die Tränen. Das hatte er noch nie vorher erlebt. Er schaute, versunken in seine quälenden Gedanken, auf die beruhigenden Bewegungen der Wellen. Auf einmal stieg eine märchenhafte Gestalt aus dem Wasser: eine blau-türkis schimmernde Meerjungfrau! Er traute seinen Augen kaum. Was sollte heute noch alles passieren? War es der Alkohol der ihn verrückt gemacht hatte? Er bekam Panik und als er wegrennen wollte, fing diese Gestalt auch noch an zu sprechen!

Sie sagte: „Niklas, keine Angst, ich bin Rhenia, die Beschützerin des Rheins. Ich möchte dir zeigen, dass es Menschen gibt, welche sich noch einsamer fühlten als du und die auch erst keine richtigen Freundschaften pflegten. Aber dann lernten sie sich auf das Wesentliche, nämlich die inneren Werte zu konzentrieren und sind nun glücklich.Aber zuerst zeige ich dir, wer Du bist!“ Daraufhin tat sich eine große, fast durchsichtige Leinwand vor seinen Augen auf. Jetzt war ihm eindeutig klar, dass er verrückt sein musste. Es gab keine andere Möglichkeit. Auf dieser Leinwand bildeten sich langsam erkennbare, bewegte Bilder. Er konnte nun einige dieser Situationen der dargestellten Szenen erkennen. Es waren Situationen aus seinem eigenen Leben. Er konnte sich an einige Szenen noch sehr gut erinnern, zum Beispiel als er ein Mädchen, das ihre Cola auf ihrer Hose verschüttet hatte, ausgelacht und bloßgestellt hatte. Rhenia sagte: „Schau dir das an, Niklas! All diesen Menschen hast du weh getan und warst nicht bereit ihnen zu helfen, als sie deine Hilfe brauchten. Jetzt bist du traurig und wütend, weil deine angeblichen Freunde dich verlassen haben. Dabei warst du selbst nie anders!“

Niklas wurde bewusst, dass er etwas an sich ändern musste. Völlig verwirrt rannte er los. Immer weiter, immer schneller. Ihm rannten die Schweißperlen die Stirn hinunter. Seine Augen fingen an zu brennen, weil der trockene Sand ihm dort hinein flog. Zu allem Überfluss begann es nun auch noch zu regnen – ein spontaner Hitzeschauer. Niklas rannte schneller. Die Äste an den Bäumen wehten von einer zur anderen Seite. Der kalte Regen prasselte auf ihn nieder. Auch über seine neuen Schuhe machte sich Niklas ausnahmsweise keine Gedanken mehr – er trat von einem mit Schlamm gefüllten Schlagloch in das nächste. Sein Herz raste. Plötzlich verlor er die Kontrolle und fiel völlig erschöpft in einen Busch. Seine Klamotten waren hinüber. Das Designer-Shirt war völlig verdreckt und die neue Jeans von Dolce&Gabbana voller Löcher. „Klasse“, dachte sich Niklas. Durch das Gewitter hindurch hörte er Gelächter – Gelächter, das ihm wirklich bekannt vorkam. Er schaute sich um und versuchte zu erraten, woher das Gelächter kam. Sein Blick blieb bei einem Supermarkt hängen. Das grelle Licht der Neonröhren schmerzte in seinen Augen. Er kniff sie zusammen, aber er konnte nur verschwommene Umrisse erkennen. Er stand auf und lief den Menschen entgegen. Das Gelächter wurde lauter. Jetzt konnte er auch erkennen, wer diese Menschen waren. Es waren seine „Freunde“, die sich köstlich über den durchnässten und verschmutzten Niklas amüsierten. Ihm fehlten die Worte. Er stand auf der gegenüber liegenden Straßenseite, schaute sie mit leeren Augen an und fühlte sich unglaublich verlassen.

Auf einmal spürte er, wie jemand eine Hand auf seine Schulter legte. Niklas drehte seinen Kopf nach hinten und sah eine kräftige Männerhand mit verdreckten Nägeln. Ein widerlicher Geruch kam ihm entgegen. „Ähm, ähm...wer sind Sie?“, stammelte Niklas. „Ick bin der Uwe, wa. Kann ick dir helfen, Keule?“, fragte der Mann. „Tze, wie wollen Sie mir denn helfen? Sie haben doch selber nichts. Eine warme Dusche und Mundwasser wären auch nicht schlecht für Sie“, antwortete er frech. Der Mann nahm es mit Humor und  lächelte Niklas mit seinen vergilbten Zähnen an. „Komm ma mit, Keule. Ick hab da noch n Höschen, dit dürfte dir passen wa. Ick schau ma, watt sich noch so finden lässt“, sagte er. Niklas wehrte sich innerlich dagegen, einfach so mit einem Obdachlosen mitzugehen. Zudem schämte er sich auch irgendwie, da seine „Freunde“ ihn ja auch immer noch beobachteten.

Doch auf eine Art strahlte der Mann auch etwas Beruhigendes aus, was Niklas das Gefühl gab, in Sicherheit zu sein. Abgesehen davon konnte er sich in diesem Aufzug auch nicht zu Hause blicken lassen. Gemeinsam liefen sie durch die Straßen. Uwe fragte Niklas, was ihm passiert sei und was die Jugendlichen auf der anderen Straßenseite von ihm wollten. Zögerlich begann Niklas, ihm alles zu erzählen. „Ach, sowat kenn ick,“ sagte Uwe, „ick wurde auch nur ausjenutzt und hintergangen. Früher war ick reich, hatte ne eigene Firma und hab mein letztes Hemd an meine angeblichen Freunde gegeben. Habe große Feten jeschmissen und Leute ausjelacht, die keen Geld hatten, wa. Auch meine Frau war nur hinter meinem Geld her. Ick hab jelernt, wat et bedeutet, wahre Freunde zu haben, die dich auch ohne Reichtum und großen Besitz so akzeptieren und respektieren, wie du bist.“ Niklas stutzte. Ihm kam das alles bekannt vor. Es war, als würde Uwe genau wissen, was in ihm vorging. Gemeinsam gingen sie in das Obdachlosenheim. Uwe bat Niklas herein und erklärte einem Betreuer dessen dämliche Lage, in die er hineingeraten war. Gemeinsam suchten sie nach einer passenden Hose und einem trockenen Shirt. Mittlerweile war es schon zwei Uhr nachts, doch der Betreuer raffte sich nochmal auf, um Niklas eine warme Brühe und eine Decke zu bringen. Noch auf dem Stuhl schlief Niklas völlig erschöpft ein. Uwe blieb die restliche Nacht neben ihm sitzen.

Als er morgens wieder wach wurde, erschrak Niklas kurz. „Was...was mache ich hier? Wer bist du?“, fragte er Uwe. Er erklärte Niklas nochmal den ganzen Ablauf, was gestern alles passiert war. „Ich will nach Hause – sofort!“, schrie Niklas. Ohne noch etwas Weiteres zu sagen, machte er sich auf den Weg. Die Klamotten widerten ihn an. Zum Glück waren seine Eltern nicht daheim. Er sprang unter die Dusche und blieb auch erst mal für eine gute halbe Stunde dort. Er legte sich ins Bett und dachte noch lange über das Geschehene nach. Er fasste einen Entschluss - „Ich will helfen!“. Er suchte noch schnell ein anderes Paar Schuhe und lief zurück zum Obdachlosenheim.

Uwe saß mit ein paar Anderen am Essenstisch bei Erbsensuppe und Würstchen. Genauso, wie es auch Uwe tat, schlich sich Niklas an ihn ran und legte seine Hand auf Uwes Schulter. Er drehte sich um und ein leichtes Grinsen war in seinem Gesicht zu erkennen. „Es tut mir Leid“, sagte Niklas, „ich hab mich benommen, wie ein verwöhnter Schnösel.“ Uwe nickte zustimmend und bat Niklas sich einen Stuhl zu holen. Alle Anderen rückten mit ihren Stühlen ein Stück zur Seite, um ihm Platz zu schaffen. Kalle, Uwes bester Freund, brachte Niklas auch eine Schale mit Erbsensuppe. Niklas gestand sein Fehlverhalten ein und nach dem Essen gingen sie eine Runde spazieren. Uwe erzählte, wie sein Leben im Obdachlosenheim so war und wie sich seine Einstellung gegenüber manchen Dingen verändert hatte. Er gab ihm Ratschläge – Weisheiten, die auch ihn durch das Leben gebracht hatten. Zum Beispiel, dass man Geld nicht zum glücklich sein brauche und dass Schönheit vergänglich sei. Vor allem aber brachte er Niklas näher, dass wahre Freundschaft und vollkommenes Vertrauen viel mehr wert seien, als das viele Geld was er besäße. Niklas bekam genau dieses Vertrauen langsam zu Uwe, denn noch nie in seinem Leben hatte ihm einer so etwas gesagt. Sonst wollten alle immer nur dass er nach außen hin toll und makellos schien - aber dass ihn auch jemand akzeptierte, obwohl er aussah wie ein Schwein,das kannte er nicht. Niklas machte sich weiterhin Gedanken und kam plötzlich auf eine brilliante Idee. Er wollte sich ehrenamtlich im Obdachlosenheim engagieren. Als sie wieder im Obdachlosenheim angekommen waren, fragte er direkt einen der anwesenden Betreuer, ob seine Idee möglich wäre. Der Betreuer stimmte zu und Niklas konnte schon in der folgenden Woche anfangen. Er half nicht nur bei den vielen Arbeiten die dort anfielen, sondern spendete auch sein ganzes Taschengeld. Er legte keinen Wert mehr auf tolle Klamotten, Geld und den High-Society-Status - die Menschen in dem Heim waren ihm um Einiges wichtiger.

Er lernte, sich mit einfachen Dingen zufrieden zu geben. Sein neues Lieblingsessen war die Linsensuppe, die die Köchin in dem Obdachlosenheim einfach köstlich zubereitete. Auch generell wurde er zufriedener. Er lachte ständig und vor allem hatte er wahre Freunde gefunden und auch eine neue Freundin namens Lena, welche ebenfalls ehrenamtlich im Obdachlosenheim tätig war. Zu Uwe hatte Niklas eine besondere Bindung aufgebaut und half ihm, einen Weg ins normale Leben zu finden und suchte täglich mit ihm im Stellenanzeiger nach einem geeigneten Job. Das Gelächter der anderen störte ihn nicht mehr und auch seine Eltern, die sich eigentlich nur den besten Umgang und erstklassige Hobbys, sowie ein adrettes Aussehen für ihren Sohn wünschten, lernten irgendwann damit umzugehen, dass ihr Junge nun ein Wohltäter war und sich mit nicht ganz so feinen Leuten abgab.

Und die Moral von der Geschicht', Geld braucht man zum glücklich sein nicht!

Von BR und RR, März 2010